Nachdem wir unsere Aula vier Jahre aus Brandschutzgründen nicht nutzen konnten, wurde der Kurt-Lehmann-Saal am 19. April feierlich wiedereröffnet. Lars Pennigsdorf, selbst einst Schüler unserer Schule, erinnert sich an bewegende Momente in der wohl schönsten Aula Hannovers.
Es war der erste August 1974. Der Tag meiner Einschulung. Gemeinsam mit mir bis dahin gänzlich unbekannten Mitschülerinnen und Mitschülern verließen wir den Klassenraum der 1A, um den Feierlichkeiten zum neuen Schuljahr beizuwohnen. Der Saal war bereits voll besetzt, er schien mir riesig groß zu sein, erfüllt von Hunderten von Stimmen. Meine Augen suchten die Reihen nach meiner Mutter ab – vergebens. Mir war das alles nicht geheuer und ich begann, pünktlich zu Beginn der Feier, fürchterlich zu weinen. Eine Lehrerin, Frau Reger, wie sich später herausstellte, nahm sich meiner an und tröstete mich. Langsam aber sicher zeigte die Erhabenheit der Aula, ihre Schönheit und ihre Wärme bei mir Wirkung, und spätestens dann, als der Schulchor „Wieder einmal ausgeflogen, wieder einmal heimgekehrt“ anstimmte, war sämtliche Angst verflogen.
Von da an hatte mich die Aula in ihren Bann gezogen. Wie oft ich auf der Bühne stand? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es immer ganz besondere Momente waren. Die ersten Monatsfeiern, das Klassenspiel der 8. Klasse („Das Wintermärchen“), zahlreiche Eurythmieaufführungen, weitere Klassenspiele in der 11. und 12. Klasse („Romulus der Große“ und „Das Gauklermärchen“). Die vielen und langen Nachmittage mit Theaterproben und Kulissenbau oder großartige Orchester- und Choraufführungen beim Schulkonzert. Nie werde ich zum Beispiel den Moment vergessen, als wir am Ende vom „Weihnachtsoratorium“ angekommen waren, Herr Schlenk den Taktstock senkte und ein, zwei Sekunden komplette Stille in der Aula herrschten, bevor der donnernde Applaus ausbrach und die Anspannung der letzten Probewochen abfielen und einem warmen Glücksgefühl wichen.
Auch nach meiner Schulzeit blieb ich der Schule und der Aula treu, auch, wenn die Abstände zwischen den Besuchen größer wurden.
Viele Jahre später wurde schließlich unser Sohn Tim eingeschult – und auch er sah am ersten Tag so aus, als würde ihn der Moment überwältigen. Aber als erneut „Wieder einmal ausgeflogen“ durch den Saal hallte, zeigte sich, welche Vollkommenheit, welche Aura die Aula ausstrahlt und auch Tim in ihren Bann zog.
Das Achtklassenstück („Die Mitternachtsbraut“) konnte mein Sohn noch in der Aula absolvieren – mit langen Theaterproben und Kulissenbau. Das Zwölftklassenstück („Homo Empathicus“) fand bereits im Gartensaal statt. Grund: Nicht nur Corona hatte das Herz der Waldorfschule in einen Tiefschlaf versetzt, auch neue Brandschutzverordnungen, notwendige Umbaumaßnahmen, langwierige Genehmigungsverfahren und natürlich auch die Beschaffung notwendiger Spendengelder. All das war ausschlaggebend dafür, dass über vier Jahre im Kurt-Lehmann-Saal nichts stattfinden konnte.
Häufig ist es so im Leben, dass sich Menschen erst durch Verluste die wahre Bedeutung vieler Dinge offenbart. Denn in die Routine schleicht sich oft auch eine Selbstverständlichkeit des Alltäglichen ein. So ist es wohl auch an unserer Schule. Erst mit Schließung der Aula wurde schmerzhaft deutlich, welch große Bedeutung sie für das Waldorfschulleben, für die Pädagogik, die Schülerinnen und Schüler, die Eltern und das Kollegium hat,- kurz, dass sie unverzichtbar ist.
Umso glücklicher war die gesamte Schulgemeinschaft, als am 19. April, nach vier Jahren Umbaupause, Herr Requardt die Türen aufschloss und jeweils 500 Gäste den beiden hintereinander stattfindenden Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung beiwohnen durften.
Auch ich freute mich riesig, endlich wieder „meine“ Aula betreten zu dürfen. Meine anfängliche Befürchtung, dass aus dem Saal durch die notwendig gewordenen Umbaumaßnahmen ein funktionstüchtiger, aber seelenloser Zweckbau geworden sein könnte, traf zum Glück nicht ein. Auf den ersten Blick hatte sich so gut wie nichts verändert. Neue, schöne Lampen, ja. Ein neuer Vorhang in samtigem Rot (übrigens aufgehängt von der gleichen Firma wie damals), ja. Auch die grün leuchtenden Notausgangsschilder fielen mir ins Auge. Aber sonst? Der Großteil der 1,6 Millionen Euro teuren Umbauten spielte sich offensichtlich hinter den Kulissen statt.
Als das Orchester und der Chor Haydn, Sibelius, Mozart, Bruckner und sogar Queen anstimmte, schlug das Herz der Schule so kräftig, so gesund, so lebensbejahend wie eh und je. Die besondere Atmosphäre des Kurt-Lehmann-Saals erfüllte die Gäste, darunter auch die inzwischen 103-jährige ehemalige Lehrerin Charlotte-Dorothea Moericke, die den Bau der Aula in den 60er Jahren aktiv begleitet hatte. Sie brachte es nach dem Konzert auf den Punkt: „Gott sei Dank ist die Aula wieder geöffnet - und wieder Leben auf der Bühne!“
Auch, wenn unser Sohn die Schule nach dem Sommer verlässt, bin ich sicher, dass wir uns alle zu den unterschiedlichen Gelegenheiten bald wieder auf den einst so harten und inzwischen angenehm gepolsterten Bänken niederlassen werden. In einem Saal, der wie kein anderer dafürsteht, was unsere Schule ist und bleibt. Ein Ort der Nähe, der Begegnung, der Musik, der Kunst und der Freude.