Es war ein Neubeginn mit Schiefertafel, Griffel und Schwamm: Am 1. Oktober 1945 war die Freie Waldorfschule die erste allgemeinbildende Schule im Stadtgebiet, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Hannover wieder mit dem Unterricht begann. Die Genehmigung wurde von der britischen Militärverwaltung in englischer Sprache erteilt und ist heute noch gültig.
„Es fehlte alles“, sagt Jörg Dernedde, der am 1. Oktober1945 eingeschult wurde. „Schulbücher und Hefte gab es nicht. Das einzige, was wir hatten, waren eine Schiefertafel, ein Griffel und ein Schwamm. Tische waren notdürftig aus breiten Brettern zusammengezimmert. Wir saßen auf Brettern, die durch Ziegelsteine auf Sitzhöhe gebracht waren. Im Türrahmen hingen lange Kartoffelsäcke, die die fehlenden Türen ersetzten.“ Umso wichtiger sei es gewesen, ergänzt der heute 76-Jährige, „dass die Lehrer wieder mit großem Engagement und demokratischer Einstellung nach dieser schlimmen Zeit zur Verfügung standen. Bei uns war es Herr Wollborn. Die Lehrer der ersten Stunde haben Großes geleistet.“ Der systematische Aufbau mit einer neuen ersten Klasse erfolgte erst Ostern 1946, genau zwanzig Jahre nach Gründung der Waldorfschule in Hannover – weshalb die Schule im kommenden Jahr zu Ostern ihr 90-jähriges Jubiläum feiern wird.
Einen Großteil seiner ehemaligen Klassenkameradinnen und -kameraden wird Jörg Dernedde in Kürze wiedersehen: Am 9. Oktober 2015 trifft sich die damalige „Wollborn-Klasse“ auf dem heutigen Schulgelände zu einem Klassentreffen.
Hintergrund:
Ostern 1926 startete in Hannover erstmals Unterricht im Sinne der Waldorfpädagogik – zunächst in einer Klasse in der Bürgerschule/Friesenstraße. Später zog die Freie Waldorfschule in die Garvens-Villa am Georgengarten (Jägerstraße 7 A). Mit Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft verhängte die nationalsozialistische Regierung ab Ostern 1935 eine Schülersperre an der hannoverschen Waldorfschule, das heißt, es durften keine Schulanfänger mehr aufgenommen werden. 1939 musste die Schule ganz schließen. Zu der Zeit hatte die Schule rund 400 Kinder und 16 Lehrer.
Nach dem Krieg war die Schule in der Jägerstraße nur noch eine Ruine. Die Stadt Hannover stellte der Waldorfschule deshalb das Gebäude der ehemaligen Paul-von-Hindenburg-Jugendherberge am Rudolf-von-Bennigsen-Ufer zur Verfügung, der heutige Altbau unserer Schule (Bild). Auch dieses Gebäude war zu 70 Prozent zerstört, konnte aber so weit hergerichtet werden, dass zum 1. Oktober 1945 zehn Lehrer den Unterricht mit rund 150 Schülerinnen und Schülern in sechs Klassen zunächst provisorisch beginnen konnten.