Ein Gespräch mit Charlotte-Dorothea Moericke zum 90. Geburtstag
„Liebes Mörchen...." so nennen manche Schüler oder Kollegen sie noch heute in ihren Briefen. Und Briefe hat sie in diesem Jahr schon reichlich bekommen. Charlotte Dorothea Moericke ist 90 Jahre alt geworden. 90 Jahre und kein bisschen leise. Vor Kurzem erst war sie bei einer Kundgebung zum „Volksbegehren für gute Schulen" und hat sich wieder einmal empört. „Wenn ich höre, wieviele Probleme manche Lehrer heute haben, sage ich: „Warum habt ihr es dazu kommen lassen? Ihr dürft nicht schweigen, ihr müsst kämpfen!". Sie mischt sich immer noch gerne ein. Schule ist und bleibt ihr Leben.
Die kleine Frau mit dem lebendigen Blick trifft man mitten im Getümmel, kürzlich auf gleich drei Veranstaltungen zum Geburtstag Rudolf Steiners, bei Schulkonzerten, auf Monatsfeiern oder in der Lehrerbibliothek. Dort wacht sie gemeinsam mit ihren ehemaligen Kolleginnen Ingeborg-Maria Reps und Ursula Blickle streng über die Buchausleihe. Und immer, wenn sie aufs Schulgelände kommt, sucht sie das Gespräch. Junge Lehrer holen sich schonmal bei ihr Rat. Erfahrung hat sie ja genug. Von 1948 bis 1984 war Charlotte-Dorothea Moericke Lehrerin an unserer Schule, von 1966 an in der Schulleitung.
Es war eine andere Zeit
Vieles hat sich verändert, erinnert sie sich. „Nach dem Krieg waren die Menschen froh, dass ihre Kinder überhaupt wieder unterrichtet wurden. Da begegnete man dem Lehrer mit mehr Respekt und Vertrauen". Diese Vertrauensbasis zwischen Eltern und Lehrern sei heute brüchig geworden. Beide Seiten reagierten empfindlicher. Die Lehrer stünden unter Erwartungsdruck und seien zunehmend verunsichert, und die Eltern? „Die machen sowieso zu viel Aufhebens um die Kinder", findet Charlotte Moericke, „was die Schüler heute alles haben und bekommen!" Sie schüttelt den Kopf.
Moericke steht fürs Handfeste. Sie ist eine Macherin. Mit Blick auf den Schulalltag kritisiert sie ein Zuviel an Gremien und Strukturen. Es müsse öfter einfach gehandelt werden. „Wenns dreckig ist im Klassenzimmer, muss man nicht erst eine Konferenz einberufen. Dann sagt man, ich unterrichte hier erst, wenns aufgeräumt ist und fertig". So kennt man sie, tatkräftig, durchsetzungsstark.
Und ja, streng war sie auch. Bei ihr gabs schon öfter mal ein Donnerwetter, ein reinigendes. Sie habe sich aber angewöhnt, die kleinen und großen „Dummheiten" der Schüler nie sofort zu strafen. Ganz in Rudolf Steiners Sinn ließ sie die Schüler (und sich selbst) einen Tag darüber schlafen, um zu überlegen, wie man die Sache wieder in Ordnung bringen könnte.
Die Schule ist ihre Familie
Charlotte-Dorothea Moericke hat selbst keine Kinder, auch das war früher üblich, erzählt sie. Lehrerinnen hatten so eine Art Funktion von „Nonnen". Und in diesem Sinn hat sie mehrere Generationen durch die Schule begleitet. Manche Urenkel ihrer Schüler sind jetzt in der Unterstufe.
Die Gemeinschaft der Ehemaligen zusammenhalten, hat sie sich zur Aufgabe gemacht. Moericke betreut die Altschülerkartei und kennt viele ehemalige Schüler persönlich. Sie telefoniert mit ihnen, trifft sich zum Kränzchen oder schreibt Briefe. „Vielen Menschen wird erst später im Leben bewusst, welche Werte sie durch die Schule erfahren haben", berichtet sie. Mit etwa 60 Jahren würden viele Schüler wieder Kontakt suchen zu ehemaligen Lehrern oder Mitschülern. Ein klarer Fall für „Mörchen". Wenn´s einer weiß, dann sie. Dann kramt sie in ihrem Gedächtnis oder in ihren Unterlagen – und zwar solange bis sie den Namen gefunden hat. Sie ist eine Netzwerkerin im modernen Sinn - ohne Email, Facebook oder Laptop. Ein Telefonbuch und ein gutes Namensgedächtnis reichen ihr. Gerade hat ein Schüler angerufen, der einst ein Sorgenkind der Schule war. Er konnte damals kaum lesen und hatte große Lernschwierigkeiten. Heute berichtet er fröhlich, dass er als Profikoch im Mittelmeer angeheuert hat auf dem Luxusdampfer eines Millionärs. Sie lacht und freut sich über solche Lebensgeschichten.
Wünsche für die Zukunft
Wenn sie nochmal wählen dürfte? Sie würde wieder Lehrerin werden. Aber sie wünscht sich, dass die Strukturen lebendig bleiben und die Pädagogik nicht vor lauter Bürokratie auf der Strecke bleibt. „Strukturen verhärten und sorgen für Stillstand", sagt sie energisch. Pädagogische Themen seien dagegen aufbauend und zukunftsgerichtet, „da geht es um den Menschen". Und für den Schulalltag wünscht sie den Lehrern: dass sie bei allen Herausforderungen noch Zeit finden für ein Gespräch..... und kaum ist unseres zu Ende, klingelt schon wieder ihr Telefon. (km)